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Klassenfahrt von Behinderten per Rad

Dieser Beitrag wurde zuerst 1994 veröffentlicht, im Rad Geber Behhinderte.

Schulausflüge werden in der Regel in Form von Wanderungen oder Busreisen unternommen. Klassenfahrten per Rad sind eher die Ausnahme, da seitens der Lehrerschaft häufig Gefahren und Probleme gesehen werden, denen man gerne aus dem Weg gehen möchte.

Dass sogar Behinderte eine Klassenfahrt mit Fahrrädern bei entsprechender Vorbereitung problemlos bewältigen können, zeigt der nachfolgende Bericht von Beate Niegefriann. Als Klassenlehrerin einer Werkstufenklasse der Johann-Hinrich-Wichem-Schule (Schule für praktisch Bildbare) in Wiesbaden beschreibt sie die Vorbereitung und Durchführung einer Fahrradfreizeit, die im Mai 1990 stattfand.

Die Schüler der Werkstufenklasse I der Johann-Hinrich-Wichem-Schule hatten erstmals 1987 den Wunsch zur Durchführung einer Klassenfahrt mit Fahrrädern geäußert. Als Klassenlehrerin dieser Gruppe griff ich diese Interessen auf und versuchte in möglichst breitgefächerten und fächerübergreifenden Unterrichtsangeboten das Fahrkönnen, Verkehrswissen und sonstige Fachkenntnisse zum Thema “Fahrrad” zu intensivieren. Insbesondere die Fachbereiche Sport, Umwelterziehung, Verkehrserziehung und Arbeitslehre boten viele Möglichkeiten, ein solches Vorhaben vorzubereiten.

Die Gruppe bestand aus sieben Jungen und zwei Mädchen im Alter von 18 bis 22 Jahren. Ein schwerstmehrfachbehinderter Schüler konnte aufgrund der Stärke seiner Behinderung nicht aktiv an diesem Projekt teilnehmen. Die anderen Schüler zeigten Beeinträchtigungen meist aufgrund frühkindlicher Hirnschädigungen (Reaktions- und Bewegungsstörungen, leichte spastische Behinderungen, kognitive Einschränkungen, Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen) oder des Down-Syndroms, hier insbesondere Störungen der Feinmotorik und der Bewegungsausdauer.

Die Wichern-Schule verfügt über einen umfangreichen Fahrrad-Fuhrpark (Kinderräder, Zweiräder, ein Tandem, drei Erwachsenendreiräder, Roller, GoCarts und so weiter) und einen großen geteerten Schulhof, auf dem erste Fahrübungen erfolgen konnten. Zusätzlich besaßen drei Schüler der Werkstufenklasse I eigene Fahrräder, mit denen sie zum Teil auch ohne Begleitung in der Stadt fuhren. Speziell für unsere Klassenfahrt wurden uns freundlicherweise drei Tandems sowie ein Fahrradanhänger vom ADFC Wiesbaden zur Nutzung überlassen.

Alle Schüler konnten selbständig, ausreichend kraftvoll und ausdauernd treten. Sie beherrschten das Auf- und Absteigen, das Bremsen mit Rücktritt und Handbremse, das Fahren in der Gruppe (zum Beispiel ausreichend Abstand halten) und das Handzeichengeben rechts und links (zum Teil Richtungsweisung nur mit Vorbild). Die Schüler kannten die Beschilderungen von Radwegen und Fußwegen sowie die Verkehrszeichen “Stop” und “Vorfahrt gewähren”. Weitere Kenntnisse über Verkehrs- und Vorfahrtregeln waren individuell vorhanden, jedoch nicht allgemein gesichert. Ein Schüler und eine Schülerin fuhren aufgrund von Gleichgewichtsstörungen auf dem Tandem beziehungsweise dem großen Dreirad und konnten so dort den “normalen” Ansprüchen ebenso genügen. Einige Schüler besaßen den “Fahrrad-Führerschein” der Jugendverkehrsschule.

Das ideale Gelände mit vielfältigen Radwegen und vorwiegend Flachland sowie ein Selbstversorgerhaus mit ausreichender Ausstattung und Bettenkapazität fanden wir bei Bruchhausen-Vilsen, 30 Kilometer südlich von Bremen. Das Umfeld von Bruchhausen bot zahlreiche Ausflugsziele, die in einem Radius von 2 bis 40 Kilometer auch auf Radwegen gut zu erreichen waren. Das Selbstversorgerhaus “Berxer Holi” diente uns als fester Stützpunkt, der Ausgangsstelle mehrerer Tagesfahrten wurde. Eine Etappenfahrt mit wechselnden Übernachtungsstätten erschien uns mit dieser Gruppe schon allein wegen des komplizierten Gepäcktransports, der schweren Kalkulierbarkeit des Wetters und der Ungewissheit, welche Tagesstrecken die Schüler zu leisten vermögen, nicht sinnvoll.

Unsere Fahrradfreizeit fand vom 10. bis 17. Mai 1990 statt. Mit insgesamt acht Schülern, drei Betreuern, acht Zweirädern, einem VW-Bus mit Anhänger sowie einem Kombiwagen mit Fahrradanhänger verlief die Anfahrt nach Bruchhausen ohne Probleme. Bereits am nächsten Tag brachen wir zu einer ersten Tour auf: Wir erkundeten auf Radwegen das Umfeld des Ortes, Ringwallanlagen am Heiligenberg, zwei Wassermühlen und Hügelgräber. Mit einer Gesamtstrecke von 23 Kilometern inklusive phasenweisem Schieben auf unebenen Waldwegen sowie mehreren Besichtigungspausen kamen wir sicher und ohne nennenswerte Vorfälle gegen Abend zuhause an. Probleme gab es lediglich wegen der schlechten Beschilderung der Radwege, wodurch wir ständig die Fahrt zum Kartenlesen unterbrechen mussten.

Es bewährte sich gut, dass die drei Betreuer jeweils mit den etwas unsicheren Schülern in wechselnder Besetzung auf den Tandems fuhren. Dadurch war für die Gesamtgruppe eine gleichmäßige und flotte Fahrweise mit einem Stundendurchschnitt von circa 15 Kilometer gesichert. Die Führung der Gruppe übernahm in der Regel ein Betreuer mit einem Tandem, eine Tandemgruppe fuhr in der Mitte, und eine bildete den Schluss, so dass die Gruppe stets “unter Kontrolle” blieb.

Leider machte uns das Wetter im Verlauf der Woche öfter einen Strich durch die Rechnung. Dauerregen an zwei Tagen führte dazu, dass wir neben kurzen Fahrten in die unmittelbare Umgebung nur drei größere Radtouren durchführen konnten.

Unsere zweite Radtour war zugleich die längste. Insgesamt 60 Kilometer von Bruchhausen nach Hoya, Nessel, Diensthop, Barme und zurück legten die Schüler mit großer Begeisterung bei strahlendem Sonnenschein zurück. Erstaunlich, dass es kaum konditionelle Probleme gab. Lediglich eine Schülerin, die auf einem Tandem mitfuhr, musste gelegentlich Tretpausen einlegen, während derer ihr Betreuer das Tandem allein fuhr. Gerade in diesem Zusammenhang erwiesen sich die Tandems insbesondere für ausdauerschwache Schüler als das ideale Fortbewegungsmittel. Ebenso sinnvoll war dies bei einer psychisch unsteten Schülerin, die zwar Zweirad fahren konnte, phasenweise jedoch durch Fahrverweigerung oder zu langsame Fahrweise die gesamte Gruppe hätte blockieren können. Hier konnte der Tandem-Führer problemlos ausgleichend wirken und Konflikte inner­halb der Fahrgruppe bereits im Vorfeld verhindern.

Am vorletzten Tag der Freizeit fand unser dritter Radausflug nach Neu-Bruchhausen und einem nahegelegenen See statt. Von einem Gewitter “verfolgt”, konnten wir unseren Badesee leider nicht ausreichend genießen, so dass wir in ziemlicher Hetze unsere 25 Kilometer-Etappe beenden mussten.

Im Nachhinein erwies es sich als positiv, dass wir nicht jeden Tag mit Fahrrädern unterwegs waren, sondern nebenbei auch Zeit fanden, uns Bremen und Verden anzusehen, ins Hallenbad zu gehen sowie mit einer historischen Eisenbahn zu einem naher Museum zu fahren. Dies gab Gelegenheit zum Erholen und Kraft-Tanken für die nächste Fahrt.

Als Fazit lässt sich festhalten, dass bei intensiver Vorbereitung Radfreizeiten auch mit geistig behinderten Schülern sinnvoll und durchführbar sind. Es ist unbeschreiblich, wie ein solches Erlebnis auf die Schüler wirkt: Stolz auf die eigene Fahrleistung, auf verkehrssicheres Verhalten und verantwortungsbewussten Umgang mit dem Fahrrad präsentierten die Schüler sich bei der Rückkehr. Der Zugewinn an Sicherheit im Straßenverkehr, die Selbstverständlichkeit von Rücksichtnahme und sozialem Verhalten in der Gruppe und die Steigerung der konditionellen Leistung waren enorm. Das Fahrrad ist seit der Durchführung unserer Klassenfahrt für fast alle diese Schüler mehr denn je zum sinnvollen Freizeitgerät und Fortbewegungsmittel geworden.