Dieser Beitrag wurde zuerst 1994 veröffentlicht, im Rad Geber Behhinderte.
Das gemeinsame Radfahren ist mit weniger Problemen verbunden, als die meisten Behinderten und Nichtbehinderten glauben. Viele negative Überraschungen kann man vermeiden, wenn man sich vor der Radtour in einem offenen Gespräch über die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten ausgetauscht hat.
Wie die gemeinsame Radtour von Behinderten und Nichtbehinderten zu einem Erfolg wird, dies hat sich Hannes Heiler in dem folgenden Beitrag überlegt. Aufgrund der Vielfalt möglicher Behinderungen können hier natürlich nur allgemeine und beispielhafte Tipps gegeben werden.
Es ist sehr schön, wenn Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam eine Fahrradtour unternehmen, es müssen aber hierbei ein paar zusätzliche Aspekte berücksichtigt werden.
Das erste Problem besteht in der Hemmschwelle, behinderten Menschen zwanglos entgegen zu treten. Wer noch nie näheren Kontakt mit behinderten Menschen gehabt hat, wird da schnell unsicher. Wie verhalte ich mich richtig, was muss ich (nicht) tun, wie helfe ich?
Wer öfter mit Behinderten zusammen ist, hat gelernt, dass ein offenes Gespräch und konsequentes Fragen fast alle Probleme löst. Mein Gegenüber wird mir schon sagen, was ich wissen muss. Wenn man sich schon eine Weile kennt, weiß man, worauf es ankommt.
Bald stellt sich das Problem in ganz neuer Form. Es gibt so viele unterschiedliche Menschen, was ihr radfahrerisches Können, ihre Kondition, ihre Einstellung, ihren Geschmack et cetera angeht, dass diese Unterschiede häufig größer sind als der Unterschied zwischen behinderten und nichtbehinderten Radlern. Dennoch sollen die spezifischen Anforderungen, die Behinderte an eine für sie geeignete Radtour stellen müssen, nicht verdrängt werden. Daher müssen sich alle Teilnehmer in einem ausführlichen Planungsgespräch über ihre Leistungsfähigkeiten gegenseitig informieren.
Bei der Planung einer Tour kommt es auf die Kondition der Teilnehmer an, vor allem aber auch auf die Art der jeweils benutzten Hilfsmittel. Mit einem Dreirad oder einem Rollstuhl-Transportrad wird es zum Beispiel problematisch, wenn sich der “Radweg” als uneben, sandig oder als schmale Fahrspur entpuppt. Wer stark gehbehindert ist, wird bei Stufen oder an Steigungen große Schwierigkeiten haben, sein Fahrrad zu tragen oder zu schieben. Wer gar sein Rad mit Handkurbel oder -hebeln statt Pedalen antreibt, wird schon an kleinen Steigungen Konditionsprobleme bekommen; die Arme sind nun mal schwächer als die Beine.
Die Streckenplanung muss also auf jeden Fall erheblich sorgfältiger als unter Nichtbehinderten erfolgen. Der beteiligte Behinderte muss aber auch selbst wissen, wo seine Grenzen liegen und dies deutlich artikulieren – andernfalls riskiert er, dass er sich das nächste Mal eine andere Gruppe suchen muss.
Auch bei der allerbesten Vorbereitung ist dennoch mit Überraschungen zu rechnen. Alle Gruppenmitglieder müssen sich daher voll aufeinander verlassen können – eben noch ein bisschen mehr als in einer Gruppe ausschließlich nichtbehinderter Radfahrer. Nach der Radtour geben die unerwarteten Hindernisse und deren erfolgreiche, wenn auch oft mühevolle Überwindung den Stoff für die spannendsten Geschichten.
So reizt es natürlich immer einmal, spontan von der vorgesehenen Route querfeldein abzuzweigen. Doch hinter der nächsten Biegung kann dann ein Viehzaun lauern. Mit dem nötigen Improvisationstalent und den entsprechenden Begleitern kann zwar auch ein Rollstuhlfahrer dieses Hindernis überwinden – aber reichen dann die Kräfte auch noch, wenn ein paar hundert Meter weiter das nächste derartige Hindernis zu überwinden ist?
Wenn man wider Erwarten vor einem Hindernis steht oder einen der Hafer sticht und auf Abenteuerpfade führt, dann ist entscheidend, wie und wo die Nichtbehinderten zupacken. Sicher ist es sinnvoll, vor einem solchen Ernstfall ein paar gemeinsame Trockenübungen zu machen. So sollte man daran denken, den Rollstuhl niemals an nur eingehängten Teilen wie Fußstützen oder Armlehnen zu tragen. Das sicherste ist, wenn ein Helfer den Rollstuhl an den dafür vorgesehenen Griffen fasst und so – gegebenenfalls angekippt – das Hindernis überwindet. Bei Bedarf sollte ein zweiter Helfer von vorn am Rahmen als Sicherung festhalten.
Nur eingefuchsten “Teams” ist dagegen zu empfehlen, bei Bedarf den Rollstuhl seitlich anzukippen und “einspurig” ein Hindernis zu passieren. Allerdings sollten alle Beteiligten gegenseitig ihre Ängste respektieren und möglichst auch einen gewissen Sicherheits-Spielraum einkalkulieren, damit sie auf jeden Fall unbeschadet wieder aus der verzwickten Situation herauskommen, in die sie sich in ihrem (Über-) Mut begeben haben.
Ein weiterer wichtiger Planungspunkt sind Restaurants, Lokale, Museen oder sonstige Gebäude, die unterwegs besucht werden. Dabei gibt es in Bezug auf Rollstuhlfahrer ein paar Anhaltswerte. Die Gebäude sollten möglichst ebenerdig liegen oder mit dem Aufzug erreichbar sein. Die Türen müssen breit genug sein, und in der Toilette muss neben dem WC genug freier Platz vorhanden sein, um vom Rollstuhl umsetzen zu können.
Telefonische Angaben sind mit Vorsicht zu genießen, weil der unbedachte Fußgänger leicht vergisst, dass zum Beispiel beim Weg von der Straße zum Eingang erst einmal 5 Stufen zu überwinden sind. Am sichersten ist daher die persönliche Begehung.
Behinderungsspezifische Einschränkungen können vielfältig sein. Bei Querschnittgelähmten sind Blasenprobleme die Regel, dazu besteht die Gefahr von Unterkühlungen und der Bildung von Druckstellen. Menschen mit einer anderen Behinderung haben wieder andere spezifische Risiken. Unterschiedliche Menschen mit derselben Behinderung sind unterschiedlich anfällig (zum Beispiel eine Druckstelle zu bekommen).
Es ist daher unmöglich, allgemeingültige Informationen zu geben. Da hilft nur, miteinander zu reden und die Antworten ernst zu nehmen. Dabei sind bestimmte Vorgaben zum Tagesablauf genauso wichtig wie eine entsprechende Zusammenstellung des Gepäcks. Für viele Querschnittgelähmte ist es lebenswichtig, täglich Flüssigkeitsmengen zu trinken, die manchem Nichtbehinderten utopisch vorkommen mögen. Unter Umständen kann dies bedeuten, viele Liter Getränke mitzunehmen. Versuche, solche Notwendigkeiten einzuschränken, sind nur akzeptabel, wenn der Betroffene dies von sich aus vorschlägt. Nur er weiß, was er sich zumuten kann und darf.
Manche Behinderte haben ziemlich eng festgelegte Zeiten, zu denen sie zur Toilette müssen. Auch die Häufigkeit eines Toilettenbesuchs ist sehr unterschiedlich – die Toilette muss es dann bei Bedarf auch geben! Unter Umständen muss der Behinderte Windeln oder eine Urinflasche mitnehmen, und die Windeln müssen dann auch gewechselt werden.
Obwohl diese Themen nicht immer angenehm sind, müssen sie gerade zwischen Gruppenmitgliedern, die sich nicht so gut kennen, offen angesprochen werden. Gruppen, die sich kennen, wissen über ihre gegenseitigen Bedürfnisse Bescheid.
Wie nichtbehinderte Radfahrer sollten auch Behinderte für ihren Rollstuhl oder ihr Spezialrad ein Minimum an Werkzeug mitnehmen. Je nach Hilfsmittel sollte zum Beispiel daran gedacht werden, dass Rollstühle und verwendete Hilfsmittel in der Regel nicht Fahrrad-, sondern Autoventile haben. Dafür braucht man zur Luftpumpe lediglich einen entsprechenden Adapter – wenn man vorher daran denkt. Ansonsten muss man eine Tankstelle ansteuern, um dort den Reifen aufzupumpen.
Sinnvoll ist es, sich vor der gemeinsamen Radtour ein sogenanntes Pannenspray zu besorgen. Damit ist ein Leck im Rollstuhl- oder Fahrradschlauch schneller und leichter zu beheben als mit konventionellem Flickzeug.
Darüber hinaus ist eigentlich kein spezielles Werkzeug nötig; ein paar Inbus- und Schraubenschlüssel in Standardgrößen (gegebenenfalls als “Knochen” oder “Engländer”) sind immer nützlich, und eine Rolle Klebeband hilft bei vielerlei provisorischen Reparaturen.
Ein Rollstuhl, ein Spezialrad oder ein anderes Hilfsmittel muss ebenso wie ein Fahrrad gelegentlich gewartet und sorgfältig auf Verschleiß oder Bruch wichtiger Teile untersucht werden. Technik-Abende, bei denen in geselliger Runde notwendige Reparaturen gemeinsam durchgeführt werden, bieten die Gelegenheit, auch die Technik von Spezialrädern kennenzulernen. Schon beim nächsten Ausflug können sich diese Kenntnisse bezahlt machen.
Zum Schluss
Wenn ich ständig das Gefühl habe, einen Menschen in Watte packen zu müssen, dann trinke ich mit ihm zuhause Kaffee oder lieber noch eine Tasse warme Milch, fasse aber keinesfalls eine gemeinsame Radtour ins Auge. Dies gilt für Behinderte wie für Nichtbehinderte.
Und: Je besser ich einen Menschen mit seinen Einstellungen und Möglichkeiten kenne, mit seinen Stärken, Schwächen und Grenzen vertraut bin, desto weniger muss ich fragen, planen und vorbereiten.
Wie sagte doch eine befreundete Rollstuhlfahrerin auf einer gemeinsamen Tour ins Blaue? “Wir kommen überall hin – man muss uns nur mitnehmen!”